Neue Zürcher Zeitung
Warten im Klangraum
Pierluigi Billone in Zürich
Alfred Zimmerlin ⋅ Sie ist schon sehr eigen, die Musik, die der Komponist Pierluigi Billone schreibt. Und sie nimmt sich viel Zeit. Im Kunstraum Walcheturm in Zürich hat die Internationale Gesellschaft für Neue Musik Zürich ein einziges grosses, gut siebzigminütiges Werk des 1960 geborenen Italieners vorgestellt, das den so eindeutigen und doch rätselhaften Titel «1+1=1» trägt. Denn zwei Instrumente verschmelzen zu einem und bleiben doch je eins und eins. Grandios, wie Petra Stump und Heinz-Peter Linshalm dieses Werk für zwei Bassklarinetten realisiert haben. Räumlich getrennt waren sie aufgestellt, das Publikum sass lose verteilt auf Stühlen dazwischen. Im Raum zwischen den beiden Instrumenten entstand das Stück gleichsam als mobile Klangskulptur, indem sich die Klänge der beiden Instrumente aufs Subtilste mischten.
Klingende Tatsachen
Die schwingenden Luftsäulen in den langen Röhren der Bassklarinetten sind förmlich zu spüren, und man hat den Eindruck, dass dieses Schwingen sich auf den ganzen Raum überträgt. Mehrheitlich leise vibriert es, eng verzahnt, Schwebungen, Differenztöne entstehen. Alles ist in Bewegung: die Farbspektren der Klänge, die fast stets gleitenden Tonhöhen, der Schalldruck, die Raumbewegung. Die Form ist ohne Narration, ohne Dramatik. Tastend erforschen die Instrumente ihre Klänge, auf wenigem insistierend. Minime Erschütterungen genügen Billone, um die Sache in Gang zu halten; gelegentlich gibt es den einen oder anderen kleineren, in der Hälfte des Stückes einen grösseren Ausbruch. Die Form hat etwas Absichtsloses, die Klänge sind einfach da, als Tatsachen, wie die Klangereignisse in einem Lebensraum da sind.
Zwischen Archaik und Natur
Gewiss lassen sie Assoziationen zu: an Archaisches oder Naturhaftes beispielsweise. Billones Musik scheint aus dem Innersten der Erde zu kommen, bewegt sich zähflüssig wie Magma. Leise Vokal-Aktionen in einer Kunstsprache mengen auch eine sakrale Komponente bei. Aber auch solche und ähnliche aussermusikalische Verknüpfungen sind einfach da, sie wollen nichts. Das ruhige, klanglich so differenzierte Auf und Ab des Stücks könnte endlos weitergehen, sein Schluss wirkt keineswegs zwingend, denn man hat schon viele mögliche Schlüsse gehört, hat sich darauf eingestellt, keinen Schluss mehr zu erwarten und einfach hörend zu warten, das Warten in Billones Klangraum zu geniessen und mit den Klängen zu sein.
Zürich, Kunstraum Walcheturm, 5. Mai 2011
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